Zeugnisse – Besser analog entsorgen als digital „entsinnen“

Lucas Cranach der Ältere: Die 10 Gebote

 

Woran denkst Du bei Arbeits-Zeugnissen? Mir fällt mein erstes Arbeitszeugnis ein, das ich nach dem Ausscheiden aus meinem damaligen Job erhalten habe. 10 Jahre mit unterschiedlichen Aufgaben, Rollen, Verantwortung in einem engen Vertrauensverhältnis zu meinem ersten „Chef“. Der hatte sich richtig Mühe gegeben. Drei sehr persönliche Seiten hat er über mich geschrieben. Die lese ich manchmal noch heute. Andere, denen ich dieses Zeugnis zeige, erkennen mich darin wieder, staunen, wie Zeugnisse aussehen können: ein Dokument wie ein ehrliches, anerkennendes Feedback über gemeinsam Geleistetes, wie Arbeit und Zusammenarbeit erlebt wurden.

Gleich danach fallen mir die 10 Gebote ein, deren Illustration von Lucas Cranach ich als Bild zum Text gewählt habe. „Du sollst kein falsches Zeugnis reden wider Deinen Nächsten“, so das achte Gebot zitiert aus der Lutherbibel. Luther schreibt in der Erklärung zum 8. Gebot, dass wir über die wörtliche Bedeutung des Gebotes hinaus „gut über den anderen reden, ihn entschuldigen und alles zum Besten kehren sollen“. Man muss nicht alles schönreden, aber im Zeitalter von Fake-News sind ein paar Gedanken über Herkunft und Bedeutung von Ritualen ganz angebracht. Kein falsches Zeugnis abzulegen schützt Freiheit und Würde, vor Gericht schützt es vor ungerechtfertigter Verurteilung.

Arbeitszeugnisse im heutigen Sinne haben ihre Wurzel in Zeiten der Leibeigenschaft. Wikipedia weiß, dass 1530 Atteste für ordnungsgemäßes Ausscheiden eingeführt wurden. Kein Dienstherr durfte einen Knecht in sein Haus nehmen, wenn er kein Zeugnis vorweisen konnte, dass er auf ehrliche Weise und mit Zustimmung des letzten Dienstherrn diesen verlassen hatte. Seit dem Jahre 1900 regelt in Deutschland das Bürgerliche Gesetzbuch den Anspruch jedes Mitarbeiters auf ein Zeugnis, das Führung (meint: Sozialverhalten) und Leistung beurteilt. Inzwischen kommen Rechtsgrundsätze wie Wahrheitspflicht, Wohlwollen, und Vollständigkeit hinzu, die Beurteilte vor Willkür und Beliebigkeit schützen. Arbeitszeugnisse sollen potentiell neuen Arbeitgebern sagen, was von einem Bewerber zu halten ist. Man sieht sie als ein Puzzlestück bei der Auswahl geeigneter Bewerber.

Berufsanfänger bestehen häufig noch darauf, von jeder Tätigkeit, von jedem Praktikum ein Zeugnis zu bekommen. Langjährige Mitarbeiter beschäftigen sich oft gar nicht damit und machen sich erst bei Jobwechsel, Entlassung, Umstrukturierung oder Chefwechsel Gedanken darüber. Das hat wahrscheinlich seinen Grund in den Erfahrungen, die man so mit Zeugnissen macht. Wenn man darüber nachzudenken beginnt, offenbart sich die Sinnlosigkeit eines überlebten Beurteilungsinstruments, das in seinen heutigen Anwendungsformen eher zur Verblödung beiträgt.

Zeugnisse machen Arbeit. Aussagefähige Zeugnisse machen viel Arbeit. Der Volksmund denkt zu recht systemtheoretisch, wenn er sagt: Mit einem Zeugnis beurteilen sich immer zwei, der Beurteilende und der Beurteilte. Urteile sind streitbar, 30.000 Arbeitsgerichtsprozesse im Jahr über Zeugnisinhalte unterstreichen das. Zeugnisse müssen gut, sehr gut oder hervorragend sein. Doch jeder weiß, dass nicht jeder in jedem Kontext gut, sehr gut oder hervorragend sein kann. Daher hilft man sich mit codierten Formulierungen, die hinter Worten mit Girlanden Unzulänglichkeiten erkennbar verbergen wollen. Manch einer sieht ein Zeugnis als lästige Pflichtübung. Entweder schreibt der Beurteilte es sich selbst, der Beurteilende beschränkt sich auf das Feilschen um ein paar Komparative oder Superlative. Manch anderen ist es so egal, man entzieht sich der Mühe und dem Prozessrisiko durch Lobhudeleien und Textbausteine: Warum Arbeit in etwas investieren, mit dem kein eigener Nutzen verbunden ist. Der Mitarbeiter geht ja weg …..

Alles Zeugnis beruht auf einem fundamentalen Irrtum: Die Gesamtleistung eines Unternehmens besteht aus der Summe der Einzelleistungen der Mitarbeiter, die jedem einzeln zugeordnet werden können. Dieser Glaubenssatz gilt für Vorgänge, die beschreibbar sind und über die ausreichendes Wissen vorliegt. Das war der vorherrschende Wertschöpfungstyp in der Blütezeit der Industrialisierung, deren Regel- und Messwahn uns bis heute die allseits beklagte Neigung zur Überregulierung unserer Systeme beschert. Überraschungen sind heute das bestimmende Element in Arbeit und Leben, die Wertschöpfung der Ausnahme hat meist die Wertschöpfung der Norm ersetzt. Leistung ist nicht mehr Verdienst Einzelner, sie ist das nicht berechenbare Ergebnis komplexer Selbstorganisation. Zusammenspiel ist wichtiger als das Individuum, dessen Leistungsbeitrag sich Bewertungs- und Beurteilungssystemen entzieht. Können ist weder messbar noch übertragbar, es tritt nur situationsbezogen auf und es ist nicht skalierbar.

Ja, liebe Steuerungsillusionisten, ich weiß, das ist schwer zu verstehen. Aber es ist so. Deshalb machen Zeugnisse einfach keinen Sinn mehr.

Viel Arbeit für wenig Sinn hat sicher auch Pate bei dem Gedanken gestanden, die mühevolle Arbeit der Chefs oder dienstleistenden Personaler durch Zeugnisgeneratoren zu ersetzen. Das macht zwar nicht die Arbeit besser, aber immerhin die Kennzahlen. So bietet just in diesen Tagen ein Verband, dem ich gerne und mit viel Nutzen angehöre, seinen Mitgliedern als kostenlose, neue, digitale Dienstleistung einen solchen an. Man gibt eine Tätigkeitsbeschreibung ein, benotet ein halbes Dutzend Leistungsmerkmale mit Schulnoten von 1 bis 6, kann zwischen verschiedenen Formulierungsvorschlägen wählen und „CLICK“: Fertig ist das Arbeitszeugnis. Natürlich darf der Hinweis nicht fehlen, dass für das Ergebnis niemand haftet. Würd ich auch nicht.

Den Selbstversuch mit durchgängig Note 1 und 6 habe ich natürlich gemacht. Sehr amüsant, bloß weder sinnig noch aussagefähig. Ausser man muss etwas tun, was man eigentlich nicht kann oder will. Das nennt man Sinn im Unsinn. Bleibt aber inkonsequent und passt nicht zu einer Einrichtung, die neue Wege zeigen will. Schlechte ähnliche Angebote gibt es reichlich im Internet zu finden, oft für zu viel Geld, aber auch „für umme“.

Eine alte Weisheit sagt: Es ist besser, Richtiges unzulänglich zu beginnen als Unsinniges zu perfektionieren. Zeugnisse in der heute praktizierten Art gehören ganz analog auf den Müll.

Mal drüber nachdenken.

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