Welche Wirklichkeit hättest Du denn gerne?

Maureen Fitzmahan: Dissonance, 2017

Kommunikation geschieht nicht in erster Linie über Sprache. Kommunikation ist nicht einmal ein Austausch, was wir fälschlicherweise oft glauben. Zwei Gehirne können nichts austauschen, jedes Gehirn kennt nur „Eigenproduktion“. Ein jeder begegnet immer nur seinen eigenen Gedanken. Alles andere sind Geräusche, mit denen wir allerdings um so mehr anfangen können, wenn vorher schon viel gesagt worden ist. Verstehen ist die Fähigkeit, aus Geräuschen etwas zu erzeugen, das Sinn macht. Bezugsgrößen wie Sprache, Haltung, Werte, Gefühle sind verlässliche Helfer beim Verstehen. Was wir nicht wirklich verstehen braucht neue Leitern, auf denen wir Verständigung über Uneinigkeit üben können. Wohlgemerkt: ohne dabei etwas auszutauschen! Deshalb reden wir so viel, verstehen uns aber nicht. Jedenfalls nicht wirklich.

Erschwerend kommt hinzu, dass Menschen verschieden sind; vor allem natürlich die anderen. Wir leben in verschiedenen Landes- und Unternehmenskulturen. Uns trennen Glaubensbekenntnisse, Generationsunterschiede, Ideologien, Vorurteile und Erfahrungen. Wir haben unterschiedliche Prioritäten und nehmen unterschiedliche Rollen im Leben ein als Mann oder Frau, junger oder Älterer, Eltern oder Heranwachsender, Mitarbeiter oder Chef-Chef usw. Jeder besetzt mehrere Rollen, viele davon auch noch in Personalunion zur gleichen Zeit. Die einen denken mehr, die anderen sind eher fühlend oder impulsiv handelnd, es gibt Extrovertierte und Introvertierte. Wir wollen mit unseresgleichen auf Augenhöhe reden, als ob wir gleich wären. Sind wir aber nicht.

Hans Werner Sahm: Begegnung

Unsere Grundeinstellung ist Ethnozentrismus. Jeder sieht sich selbst als Mittelpunkt der Welt, alles andere wird mit Bezug darauf bemessen und bewertet. Jeder sieht seine Welt. Das Problem: Die Protagonisten einer speziellen Weltsicht halten jede andere Sicht für mehr oder weniger grundfalsch und stehen ihr feindlich gegenüber. Empathie hilft dies zu mildern oder aufzuheben. Aber wer relativiert schon gerne eigene Glaubensbekenntnisse und setzt sich mit denen anderer eingehend auseinander? Immer wenn es eng wird, greifen wir gerne zur Moralkeule, die uns freundlicherweise in kritischen Situationen zwischen gut und böse glasklar zu unterscheiden hilft. Glücklich diejenigen die wissen, dass die richtige, die wahre Moral nicht existiert. Wir sollten uns selbst keine Geschichten erzählen. Die Geschichten anderer sind auch a priori nicht wahrer als unsere eigenen. Gute Kommunikation ist so gesehen die Fähigkeit, mit unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten anderer Menschen einigermaßen verläßlich umgehen zu können.

Ach ja, wie ich jetzt darauf komme? Ein alltäglicher Coaching – Auftrag bringt mich darauf. Genauer: Gleich drei mit ähnlichem Muster innerhalb weniger Wochen, um ganz ehrlich zu sein. Die will ich natürlich nicht hier bearbeiten, gerne aber ein paar grundsätzliche Überlegungen anstoßen. Die Ausgangssituation: Mehrere Menschen, erwartungsgemäß grundverschieden, sollen zusammen wertschöpfend arbeiten. Das gelingt nur sehr unzulänglich, Kollateralschäden dominieren Wertschöpfung, zumindest gefühlt. Verzwickte Wechselwirkungen stören, für die jeder die Ursache im jeweils anderen sieht. Die Diagnose: Multipler Ethnozentrismus. Der Auftraggeber liefert den Therapievorschlag gleich mit: vermitteln, Kompromisse finden, ein jeder möge doch ein bißchen so werden wir der andere (nur hinsichtlich seiner guten Seiten, versteht sich), Verständnis erzeugen. Die Grundidee des erwarteten Vorgehens hat (fast) immer mit Mittelweg zu tun, Extreme abschwächen, unterschiedliche Denkweisen und Handlungsmuster „ausmendeln“ zu helfen.

Ganz ehrlich: Davon halte ich gar nichts. Konflikt ist unter der Bedingung von Unsicherheit (es gibt keine eindeutig richtigen oder falschen Vorgehensweisen; so gesehen ist in den meisten Arbeitssituationen Unsicherheit der Normalfall!) wichtiger als Konsens oder Kompromiss. Konflikte vergrößern die Anzahl der vor einer Entscheidung berücksichtigten Faktoren, Kompromiss und Konsens reduzieren sie. Konflikte helfen zu fokussieren, sie sind dazu in der Lage radikal neue Sichtweisen zu fördern, kollektive Sinnfindung. Eine der größten Herausforderungen der Organisationsentwicklung ist es, Konflikte kreativ ohne ihre dunkle Seite, die Pervertierung, nutzbar zu machen. Sie zu unterdrücken, unterschiedliche Sichtweisen gleichzuschalten schafft eine Melange aus gegenseitiger Gleichgültigkeit, der Priorität von Wohlfahrt gegenüber dem klaren Blick für Zusammenhänge. Konflikte können Kreativität, Hochgefühl und neue Ideen erzeugen, gleichzeitig Frust und Verzweiflung. Sie sind eben einfach menschlich.

Eines der großen Probleme beim Verstehen der Implikationen komplexer Systeme ist unsere Neigung zu „gutem Willen“ und das Bestreben „Gutes“ zu tun. Dazu gehören gemeinsame Ziele, abgestimmte Interessen, gegenseitiges Vertrauen usw. Ich habe gelernt, dass solche moralischen Ansprüche wenig hilfreich sind bei Veränderungen unter unsicheren Bedingungen. Zusammenarbeit mit gegensätzlichem Verständnis über das, was passiert und was passieren sollte, fördert Fortschritt. Oft genug habe ich Menschen sagen hören, dass vor einer großen (oder kleinen) Idee Konflikte liegen, auch mal zwischenmenschlich und spannungsgeladen. Komplexität heißt mit Überraschungen rechnen, Anzahl und Wirkungsweise der ein System beeinflussenden Faktoren sind unbekannt. Werden die Möglichkeiten eingeschränkt, die Muster eines Systems durch vielfältige Interaktionen zu erforschen, bedeutet dies gleichzeitig, dass Erkenntnispotentiale reduziert werden.

Dies gilt übrigens nicht nur für Konfliktfelder im Privaten und im Arbeitsumfeld. In sozialen Gemeinschaften ist die Lernfähigkeit unendlich größer als bei Individuen. Menschen beobachten, denken, handeln unterschiedlich. Darin liegt ein Erkenntnisgewinn, denn in komplexen Systemen ist nicht alles erklärbar. Die Suche nach Konsens in unsicherem Kontext reduziert die Anzahl möglicher Optionen. Implizit wird unterstellt, das Objekt in unserer Handlungen folge den Regeln einer prozessualen Struktur. Genau die ist unter Unsicherheitsbedingungen per definitionem eben nicht gegeben.

Was können wir tun? Wir können zu verstehen versuchen, wie Interaktionen zwischen unterschiedlichen Beteiligten und Variablen eines Systems wirken. Wir können Agierenden die beschriebenen Zusammenhänge erklären. Vor allem müssen wir neu lernen: Richtig oder falsch sind unter komplexen Bedingungen keine relevanten Entscheidungsgrößen. Das hat Einfluss auf unsere Vorlieben und Vorgehensweisen. „Zweinigung“ (agree to disagree) und „ritueller Dissens“, eine Sichtweise auf Konflikt als Normalfall sind bessere Coaching-Ansätze als der Versuch, aus unterschiedlichen Sichtweisen eine homogenisierte Melange zu erzeugen. Klare Feedbacks, Lernbereitschaft, provokante Fragen, Widerspruch, Rituale mit Unstimmigkeiten umzugehen u. v. a.m können hilfreiche Werkzuege sein. Nicht zu vergessen: All diese Verhaltensmuster entstehen nicht durch moralische Appelle! Letztlich hilft einzig die Erfahrung, dass es so besser geht als anders.

Diese Erfahrung kann man organisieren. Darin liegt heute eine der wichtigsten Aufgaben wirksamer Beratung, Irritationen sind willkomene Unterstützer. Ich ziehe es vor, als Coach mit diesem Verständnis Wirksamkeit zu erzeugen.

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