Könnendes Probieren – Ecce Homo

Für das diesjährige „DestinationCamp’18“ der Netzvitamine durfte ich die Keynote beitragen. Thema war „Der Mensch“, unsere Lebens- und Arbeitsbilder umgeben von Digitalisierungs-, Arbeit4.0- und New-Work-Ängsten, -Phantasien und Filterblasen. Dazu hier das Video der Keynote und ein zusammenfassender Artikel für die „Werkschau DC’18„, in der dieser Beitrag erstmals erschienen ist. Sicher wird wie in den Vorjahren die Werkschau bald im Netz bei Netzvitamine zum Download bereitstehen. War eine klasse Veranstaltung, interessantes Publikum, spannenende Themen. Danke, Netzvitamine! #DCHH18

 

Seht ihn an! So ist der Mensch: Setzt unbewusst Lösungsschemata ein, mit denen er in scheinbar ähnlichen Situationen erfolgreich war. Ganz unbewusst.  Erst wenn wir scheitern, wird uns das richtig klar. Édouard Cloparède nannte diese Beobachtung bereits vor 100 Jahren das „Gesetz der Bewusstwerdung“: Wo es keine Schwierigkeiten gibt, gibt es kein Bewusstsein. So gesehen haben wir reichlich Potential zur Bewusstseinserweiterung ohne uns auf Abwege ins Bahnhofviertel begeben zu müssen. Doch es wird zu viel geredet und zu wenig getan.

Nicht erst seit heute fürchten wir uns vor neuen Technologien. Vor der Digitalisierung waren es die Roboter, davor der Computer, das Auto, die Dampfmaschine, …. und sicher wird sich irgendwann eine Höhlenzeichnung finden, in der ein Steinzeitmensch die Erfindung des Rades sorgenvoll beklagt. Technologieängste gibt es, seitdem es Menschen gibt. Sie waren immer unbegründet. Technologie war nie wirklich das Problem.

 

„Könnendes Probieren“ ist unter Bedingungen der Komplexität die Strategie mit der höchsten Erfolgswahrscheinlichkeit 

 

Heute fürchten wir die Dynamik um uns herum. Wir lieben Sicherheit und Stabilität, würden gerne unser Leben und die nächste Reisesaison planbar machen. Das Denken in Management und Führung der letzten 200 Jahre ist entscheidend geprägt von mechanistischen Sicht- und ingenieurtechnischen Vorgehensweisen. Jede Wirkung hat seine Ursache ist das erfolgreiche Mantra der Industrialisierungsepoche. Es prägt noch heute unsere Bilder vom Leben und Arbeiten.

Viele Klagen über schlechte Planungen sind allerdings in Wirklichkeit mehr auf den Verlust unserer Fähigkeiten zum Improvisieren zurückzuführen. Wir fremdeln mit den neuen Technologien statt uns zum „könnenden Probieren“ durchzuringen. „Könnendes Probieren“ meint eine experimentelle Grundhaltung in sozialen Systemen, die durch ihre vielfältigen Verbindungen und Interaktionen charakterisiert sind. Natürlich nicht das Probieren eines Ahnungslosen, der mit der Stange im Nebel herumstochert; Könner braucht das Land, die mit solidem Wissen, Theorie, Talent und Erfahrung sich etwas trauen und schnell lernen.

Planen und Analysieren sind hervorragend in Umgebungen, die von Stabilität, Wissen und erfahrener Prozesstechnologie geprägt sind. Wo hingegen Überraschungen der Normalfall sind, in dynamischen, komplexen Situationen also, ist das Umfeld nicht beherrschbar. Wir können die vielen und zum Teil unbekannten Einflussfaktoren nicht vollständig begreifen. Mit dem System tanzen, in Interaktion mit ihm treten, „könnendes Probieren“ ist unter Bedingungen der Komplexität die Strategie mit der höchsten Erfolgswahrscheinlichkeit.

Wo Überraschungen der Normalfall sind, ist das Umfeld nicht durch Planung zu beherrschen

 

Diese Dynamik bedeutet, dass unser Wissen nicht Schritt halten kann mit dem Tempo der Veränderungen um uns herum. Unsicherheit mögen  wir nicht. Besser Risiken analysieren, absichern und vermeiden. Dabei ist Unsicherheit in der Geschichte der Menschen eher der Nomalfall gewesen, ungewöhnlich war die relative Sicherheit und Stabilität der Letzten Jahrzehnte. Je mehr Dynamik, desto weniger ist Sicherheit möglich. Im Gegenteil bemerken wir nicht, dass unser ständiges Streben nach Sicherheit Risiken entstehen lässt, die viel gefährlicher sind als die so gefürchtete Technik.

Es gibt einen wichtigen Unterschied zu den vorangegangen technologischen Umwälzungen. Hinter der vordergründigen Angst vor dem Verlust von Arbeit steckt ein tiefgreifendes ethisches und gesellschaftliches Problem. Wir sollten davon ausgehen, dass in den nächsten 1-2 Jahrzehnten alle Tätigkeiten automatisiert werden, die mit Algorithmen abgebildet werden können. Es wäre ein fataler Fehler davon auszugehen, dass dies nur die scheinbar einfachen oder geringqualifizierten Tätigkeiten betreffen wird.

 

Welchen Mehrwert biete ich einem Kunden, der sich eine halbeStunde im Internet mit der Frage beschäftigt hat, für dic ich früher ein Experte war?

 

Denken wir nur an den Arzt, dessen Patient vor der Visite längst die Symptome seiner Beschwerden gegoogelt hat. Der hat sich in einer Stunde gezielter Lektüre mehr Wissen über seine Beschwerden angelesen, als der Arzt in der kurzen Dialogzeit aus seinem Gedächtnis oder dem medizinischen Lexikon abrufen kann. Jeder Arzt, Rechtsanwalt, jeder Kundenberater im Reise- oder Touristenbüro muss sich die Frage stellen: Welchen Mehrwert biete ich einem Kunden, der sich eine halbe Stunde im Internet mit der Frage beschäftigt hat, für die ich früher der Experte mit Wissensmonopol gewesen bin. Wer darauf keine gute Antwort weiß, der wird es schwer haben.

Automatisierte Arbeit ist ein Problem in einer Gesellschaft, die auf dem Prinzip Arbeit beruht. Denn Arbeit haben oder nicht haben teilt die Menschen in Gewinner und Verlierer, in die, die Arbeit haben und die, die keine haben. Bei den technologischen Umwälzungen der Vergangenheit konnten wir derartige Disruptionen relativ leicht verkraften. Für den Arbeiter in der Landwirtschaft war es leicht und möglicherweise angenehm zum Automobilfacharbeiter umzuschulen und einer tariflich bezahlten Tätigkeit nachzugehen. Künftig wird es nur noch hochqualifizierte Tätigkeiten geben. Jeder muss mehr wissen, mehr als durch bloßes „Umschulen“ vermittelt werden kann.

Die Automatisierung macht die Arbeit billiger, was wir auf der einen Seite als Konsumenten und Unternehmer zu schätzen wissen. Wir werden Arbeit künftig nicht mehr bloß umverteilen können. Neue strukturelle Rahmenbedingungen der Arbeit werden Verwerfungen entstehen lassen, mit denen unser derzeitiges Denken und Wirtschaftssystem nicht umgehen kann. Automatisierte Arbeit zahlt keine Steuern, im Gegenteil: sie spart Steuern, weil sie als Betriebsausgabe absetzbar ist. Selbst billige Arbeitskräfte leisten Beiträge zu unseren Sozialsystemen und für Infrastruktur, Bildung und Verteidigung. Die Krise der Arbeit kann so leicht zur Krise der Gesellschaft werden.

 

Die Krise der Arbeit kann leicht zur Krise der Gesellschaft werden

 

Je mehr Arbeit verschwindet, die Algorithmen besser und schneller erledigen können als wir, desto bedeutsamer werden Bildung, Ethik und Moral. Müssen wir alles tun, was technisch möglich ist? Die Automatisierung aller einfachen Tätigkeiten zerstört ihre eigenen Grundlagen. Woher kommen die Meister von Morgen, wenn wir heute nur noch angelernte Maschinenbediener bezahlen wollen? Wir drängen heute immer mehr Menschen in schlechtbezahlte und geringqualifizierte Jobs mit schlechten Zukunftsaussichten. Die Standardfälle werden Maschinen für uns erledigen können, für die Ausnahmen brauchen wir engagierte und hochqualifizierte Menschen, die Spaß an ihrer Arbeit haben. Die Ausnahmen werden übrigens zahlreicher werden, weil individualisierte Bedarfsstrukturen mehr Raum zur Entfaltung erhalten und mehr Spielraum zur Befriedigung erhalten werden. Das Management der Norm war Kennzeichen industrialisierter Massenproduktion. Jeder möchte lieber die Ausnahme sein!

 

Mehr persönliche Entwicklung und weniger Selbstoptimierung, mehr Ermöglicher als Bedenkenträger

 

Könnten wir Bundesligaspiele mit Niveau anschauen ohne die vielen kleinen Jugendvereine, Verbands- und Regionalligen? Kennen Sie den Unterschied zwischen einer Anweisung zur Kundenfreundlichkeit und einem empathischen Menschen mit Gefühl für andere? Wir wollen von allem das Beste doch wir schaffen Burnout. Die beschriebenen Veränderungen müssen nicht zwangsläufig „schlimm“ werden. Wir müssen nur damit anders umgehen lernen als mit den Mustern der Vergangenheit. Wir könnten darüber nachdenken, ob klassische Erwerbsarbeit im Zentrum von Entlohnung, gesellschaftlicher Anerkennung und staatlicher Besteuerung bleiben soll? Nicht dass das zu utopisch wäre: Auch die alten Griechen haben nicht gearbeitet, sie haben sich der Philosophie, der Bildung und demokratischen Gesellschaftsformen gewidmet. Gearbeitet haben nur die Sklaven.

Warum sollten nicht die Roboter und die Computer die Sklaven morgen sein? Statt für Geld ins Büro zu gehen, könnten wir doch bedeutsame und Freude bereitende Dinge tun. Dazu brauchen wir allerdings eine Bildungsinitiative, herausfordernde Jobs und ein anders Verteilungssystem für Arbeit, Bildung, Steuern und neue Lebens- und Arbeitsbilder. Wir brauchen mehr persönliche Entwicklung und weniger Selbstoptimierung, mehr Ermöglicher als Bedenkenträger. Was passieren wird ist nicht im einzelnen, wohl aber in seinen Konturen erkennbar. Wir müssen nur wieder Mut zu Visionen und neuen Strategien entwickeln. Dann klappt es auch mit der Digitalisierung und einer lebenswerten Zukunft.

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