Beratung war gestern – Heute ist Mitmachen!

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Raffael: Die Schule von Athen (Ausschnitt); 1510/11; Vatikan, Stanza della Segnatura.

 

Meinesgleichen sprechen viel über Veränderung oder Change, Komplexität, VUCA. Wir sehen Berufsbilder verschwinden, neue kommen, bestehende sich rasant verändern. Fast alles wird anders, obwohl das so neu ja wirklich nicht ist. Das war schon immer so. Neu ist nur das Tempo und die Gleichzeitigkeit, mit der alle Lebensbereiche von Veränderungen erfasst werden. Bei allem, was Berater und Coaches wie ich ihren Kunden nahe zu bringen versuchen, lohnt ein Blick auf den Splitter im eigenen Auge: Was verändert sich eigentlich für die zahlreichen Berater und Coaches? Welche Themen, Rollen, Vorgehensweisen sind heute angesagt oder sowas von out?

Ein kurzer Rückblick hilft verstehen. Der Perspektivenwechsel zweier beruflicher Lebensabschnitte als leitende Führungskraft und als Coach & Berater helfen beim Ordnen und Verstehen der Zeitläufte. Die will ich nicht einfach mit Fakten beschreiben, sondern mit dem, was sie in mir hinterlassen haben. Denn die Geschichte bin ich selbst, sie kann nur verstehen, wer weiß wo er herkommt. „Das Leben musst du vorwärts leben, verstehen allerdings kannst Du es nur rückwärts“ beschreibt dies der Phlilosoph Søren Kierkegaard.

In der Zeit meiner beruflichen Kinderstube schien die Welt noch verläßlich. Die Ordnungsmuster in Wirtschaft und Gesellschaft sahen noch intakt aus, auch wenn sie Kratzer durch die ersten strukturellen Krisen der Nachkriegszeit abbekommen hatten. Es war die Zeit der aufkommenden „strategischen Planung“ in den Unternehmen;  Technik, Produkte und Dienstleistungen entwickelten sich rasant. Es brauchte viel Wissen und neue Sozialtechniken, um den Überblick nicht zu verlieren. Berater, Coaches waren willkommene Begleiter als Vermittler solchen Wissens. Die Entscheidungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft kamen noch aus einer begrenzteren Welt, deren Bewältigung viele noch immer nicht geschafft hatten. Beratung drang in das Bewusstsein von Entscheidungsträgern vor, sie fanden Auskommen und Anerkennung vor allem durch die Vermittlung neuen Wissens. Sie waren Wegweiser, ihr Kerngeschäft war so etwas wie berufliche Weiterbildung. Nicht von ungefähr finden wir diesen Begriff noch heute in dem ein oder anderen (Weiter)Bildungsprogramm zahlreicher Unternehmen.

Die Außensicht auf die Welt und ihre sprudelnde Wissensentwicklung wurde abgelöst durch einen mehr von der Innensicht der Menschen geprägten Zeitraum. Produkte wurden schnelllebiger, Konkurrenz bedeutsam, Verbraucher kauften wählerischer, es verkauft sich nicht mehr alles. Grundsätzliches wird in Frage gestellt. Berater helfen in dieser Zeit, mehr aus sich herauszuholen. Ihre Themen waren Persönlichkeitstrainings, Gruppendynamik, Sozialkompetenz und Teamentwicklungen, ein Potpourri von Management- und Führungssystemen. Der Mensch musste aufrüsten, um mit dem zunehmenden Tempo der Technik und der Wirtschaft Schritt halten zu können. In Übertreibungen nahmen Ideen der Personal“entwickler“ esoterische, bisweilen auch therapeutische Züge an in dem Wahn, Menschen so zu gestalten, wie man meinte sie gebrauchen zu können. Ja, Auswüchse aus dieser Zeit sind bis heute spürbar, auch wenn der „Mythos Motivation“ längst Geschichte ist.

Die dritte erlebte Phase meines beruflichen Lebens geht einher mit einem Verlust an Sinn und der Erosion alter Ordnungssysteme auf breiter Front. Die heile Welt mutierte zur riskanten Multioptionsgesellschaft: Arbeitsplatzangst für alle gesellschaftlichen Schichten, der Globalisierung und der Internationalisierung des Wettbewerbs. „If the Going gets tough, the Tough gets going“ wird zum Lebensgefühl. Mehr Konkurrenz statt mehr Vertrauen, es ist das Gefühl abnehmender Sicherheit, abnehmenden Wohlstands für alle. Die Rolle von Beratung und Coaching: Überleben in einer immer undurchsichtigeren Welt. Eigenverantwortung, Optimierung seines Selbst und aller Prozesse um einen herum. Das Toyota-Vorbild der Beseitigung von Verschwendung durch Beteiligung möglichst vieler Mitarbeiter wird zum „Schlankeitswahn“ der Rationalisierung und des Outsourcing von oben herab. Es geht weniger um Vermehrung von Wissen als um die Reduzierung auf das scheinbar Wesentliche. Strukturen erkennen, Antworten auf neue Herausforderungen finden, industriell umsetzen, Best Practice als Standards definieren und fertig. Projekte nach klaren Vorgaben à la Wasserfall entwickeln und umsetzen. Wer das nicht mitspielt wird schnell überflüssig, als Mitarbeiter und als Coach und Berater. Das Beratungs- und Coachinggeschäft lässt viele zu Gurus und Hohepriestern von Methoden und Techniken mutieren (Lean, Six Sigma (besser auch „Sick Stigma“), TQM um nur einige aus dem Bereich industrieller Produktionsorganisation zu nennen). Selten gab es größere Möglichkeiten, sich persönlich und wirtschaftlich zu entwickeln, wenn man seine Vorstellungen mit dem Zeitgeist in Szene zu setzen verstand. Selten aber auch waren die Möglichkeiten so groß, sich selbst ins Abseits zu inszenieren. Wirtschaft und Gesellschaft polarisieren.

Wir beginnen zu verstehen, dass es keine einfachen Antworten mehr gibt und alte Muster versagen. Wir sehen, dass unser Streben nach Optimierung eine Zeit lang Luft zum Atmen verschafft, aber Grundlegend nichts verändert. Es ist besser, etwas Richtiges fehlerhaft zu machen und dabei zu lernen, als Irrwege immer feinteiliger zu optimieren. Es reicht heute nicht mehr, bestehende Produkte zu digitalisieren, mal eben eine Social Media Abteilung einzurichten. Neue Technologien fordern neue Angebote, neue Produkte und damit neue Geschäftsmodelle (denken wir zum Beispiel an die Automobilindustrie, das Banken- und Versicherungswesen u.a.m.). Die haben nur den Nachteil, dass wir im vorhinein nicht mit Sicherheit wissen, wie sie funktionieren. Doch damit ist der alte Beratungsansatz Strategie – Konzeption – Umsetzung und Betrieb am Ende. Er ist zu teuer und unflexibel, er braucht zu lange Zeit bis irgendetwas von Bedeutung zur Welt kommt. Danach darf man nicht mehr zweifeln, und so werden munter strategische Schieflagen umgesetzt. Je größer die Beratungsgesellschaften, desto höher die Tagessätze, desto jünger und unerfahrener die Berater. Das deprimiert natürlich die Kunden, zeigt es doch die Unzulänglichkeiten des Systems auf.

Unter den Bedingungen komplexer Systeme wird es immer wichtiger, einfach mal zu machen. Da ist weniger Konzept und Beratung gefragt als Coaching (als begleitend moderierender Prozess) und Prototyping. Natürlich braucht man eine Strategie, oder besser: eine Idee, was man anders oder besser machen will. Aber dann zeigt sich die Überlegenheit eines Ansatzes, der schnell ins Doing kommt (siehe hier). Der neue Typus des Beraters will mit seinen Kunden so schnell wie möglich Resultate erzielen, diese testen und weiterentwickeln. Interessant ist, dass unter diesen Bedingungen auch Strategien sich schneller beweisen können.

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Quelle: Gapingvoid.com

Beratung und Coaching erhält immer mehr die Funktion einen Beitrag zu leisten, eine komplexer werdende Welt als gestaltungsfähige Herausforderung zu begreifen. Niemand weiß, was richtig und gut ist. Aber gute Berater und Coaches bringen sich mit all ihren Fähigkeiten ein, herauszufinden was weiter bringt. Fähigkeiten, die dazu gebraucht werden sind neben fachlichen Anforderungen ein hohes Maß an Kenntnis menschlicher Verhaltensweisen, Kommunikation, Selbststeuerung und Selbstorganisation und ein Denkrahmen, der statt Menschen auf ein idealisiertes Wunschbild hin zurecht zu trimmen Gestaltungsmöglichkeiten am jeweiligen System aufzeigt. So werden aus „Scheinwissenden“ „Mitsuchende“. Das halte ich für das Beratungs- und Coachingkonzept der Zukunft.

Das klassische Beratungsgeschäft gerät dadurch unter Druck. Gut so, es hat sich in vielen Lebensbereichen überholt. Es fördert auch eher kleinere Beratungsgesellschaften oder selbstständige, die ihre Nische gefunden haben. Denn es kommt weniger darauf an, wer die besten High Potentials vom Campus abwirbt und für hohe Beratungssätze an Kunden vermietet sondern auf das Können einer Person oder eines Teams, mit seinen Fähigkeiten in ein Kundensystem einzutauchen und an ihm und mit ihm zu arbeiten. Konzept und Umsetzung verschmelzen dort. Ich bin sicher: Kunden sind da entschieden besser aufgehoben.

 

 

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[…] schon mal mich über die Zeitläufte und Epochen des Daseins in beratenden Berufen ausgelassen (hier). die Geschichte sagt nichts über die Zukunft. Außer, dass es  unwahrscheinlich ist davon […]

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